Auszüge aus meinem ersten Rundbrief

Am Ende einer für mich typisch indischen Woche mit täglich 6 Stunden (inklusive Mittagspause) Arbeit mit 22 Kindern mit verschiedensten geistigen und körperlichen Behinderungen, morgendlichem Yoga, jeder Menge Reis, den ich mit meinen Händen gegessen habe, Sprachunterricht, Tanzstunden, Wäsche waschen mit den Händen, gemeinsamen Abenden mit meiner super Gastfamilie und vielen anderen Erlebnissen, sitze ich, nach einer holprigen Busfahrt für ein paar Cent, unter einer Palme am Strand.
Ein anderer Freiwilliger fragt mich: „Sag mal Manuel, hast du eigentlich schon viel auf deinem Blog geschrieben?“. „Geht so und Fotos habe ich auch schon hochgeladen, aber ich glaube, ich sollte so langsam meine erste Rundmail schreiben. Einige warten bestimmt schon darauf und wenn ich diese Woche nicht mehr schreibe komme ich den restlichen Monat nicht mehr dazu, weil ich nach Ooty, Mysor und Madikiri fahre. Ich habe ja nächste Woche frei. Ich weiß nur nicht so ganz, was ich schreiben soll.
Naja, ich fange einfach mal an und schaue, was dabei rauskommt.“

 

Namaste oder wie mensch hier* oft sagt Namaskara. Im Yoga begrüßt man sich auch mit Hadi-om, einem Götternamen.

(*wenn ich „hier“ schreibe, bedeutet das, in meiner Familie, Stadt, Distrikt oder Bundesstaat. Ich glaube fast nichts ist auf ganz Indien übertragbar. Indien unterscheidet sich unter anderem in Sprachen, Klima, Essen, Traditionen, Armut, Gewohnheiten oder Natur. Selbst für die meisten Inder sind diese Unterschiede noch gewaltig. Außerdem ist alles was ich schreibe subjektiv.)

Durch das Hören oder Sprechen von Götternamen sollen die Eigenschaften des Gottes auf den Sprecher/Hörer übergehen, deshalb benennen auch viele Eltern ihre Kinder nach einem Gott (z.B. Ram(a)). Viele Leute besitzen keinen Nachnamen. Frauen hängen stattdessen den Namen ihres Mannes und Männer den Namen ihres Vaters an ihren Namen. Die indischen Namen sind für mich genauso schwer auszusprechen, wie für die Inder mein Name. Die Leute hier können aus einem indischen Namen oft die Kaste/Religion und/oder die Herkunft erkennen. Deshalb und weil einige nicht viel mehr Englisch können, ist die häufigste Frage, die ich hier gestellt bekomme, „What’s your name“. Am Versuch, den Namen Manuel zu wiederholen, scheitern allerdings die Meisten.

Ein paar Kinder, die in meiner Straße wohnen, haben meinen Namen zu Amali verdreht. „Amali“, „Bye“, „Hello“ und „How are you?“, rufen sie mir gerne die ganze Straße lang nach. Richtig süß. Andere Kinder aus meiner Nachbarschaft, mit denen ich auch schon Cricket gespielt habe, nennen mich Anna, was großer Bruder bedeutet. Es ist hier üblich sich als Familienmitglieder zu bezeichnen, es ist auch ein Zeichen von Wertschätzung gegenüber dem Anderen.

Menschen mit denen ich hier zu tun habe heißen:

Asha (Gastmutter), Chandrashekar (Gastvater), Patreksha (Schwester), Danush (Bruder), Leika, Bruno und Rani (unsere Hunde- wir haben auch einen Fisch und einige Insekten im Haus), Raschied, Sandeep( Studenten, mit denen ich mir die erste Zeit die Mietwohnung geteilt habe – jetzt gehört sie mir alleine), Leela (Kurzform des Namens meiner Schulleiterin), Daya (Kontaktperson der Partnerorganisation), (Naga, Guru, Raschmitta, Nisha, Anisha, Akash, Swati, Pinky, Yogesh, Putta, Rekka, Jaya, …(Kurzformen der Namen unserer netten Schüler).

 

Die Schreibweise der Namen ist hier von mir erfunden. Die Schrift der Hauptsprache Kannada, hier in Karnataka, legt die Aussprache exakt fest. Jeder Buchstabe wird genau auf eine Art ausgesprochen, mit festgelegtem Druck, Geschwindigkeit und Zungenposition. Z.b kann „Anna“ Reis oder Bruder „Kole/Kolle“ Schmutz oder Raubüberfall heißen. Das Ganze erleichtert das Lernen der Sprache nicht wirklich. Dafür gibt es keine Formen von „Sein“ und auch nur 3 Zeiten, wobei oft einfach Gegenwart mit Wörtern wie Gestern bzw. Morgen verwendet wird um die Zeit festzulegen.

Die Meisten hier können ausreichend „indisches“ Englisch und ohne Worte kann man sich auch oft ganz gut verständigen. Meine Gastfamilie beherrscht für indische Verhältnisse ein super Englisch. Meine Gastmutter unterrichtet sogar Kinder aus der Nachbarschaft.

Mit meiner Gastfamilie komme ich richtig gut aus und es ist schön mit ihnen zusammenzuleben. Zu meinem Glück sind sie etwas betuchter, wohnen relativ nah an der Stadt, haben ein schönes Haus, bereiten tolles Essen zu und haben 2 Kinder in etwa meinem Alter.  ...
Was mir hier begegnet, ist in so vielen Details anders; vieles ist einfach an das Land, die Zustände und das Klima angepasst. Wer andere Pflanzen hat, kocht einfach anders und wenn wenig private Fahrzeuge existieren, gibt es mehr öffentlichen Verkehr. Religionen, Sozialverhalten und andere Sachen haben sich wohl eher über die Jahre hier entwickelt und sind auch schwieriger zu verstehen und schon gar nicht vorauszuahnen.
Vorurteile, wie „Indien ist arm, spirituell weiter, entspannt, voll von Kühen, Affen, Elefanten und gefährlichen Tieren“ sind auf jeden Fall nicht generell zutreffend. Es gibt hier in der „Kleinstadt“ genauso Reiche, die sich wie bei uns teurere Autos und große Häuser leisten. Kühe sieht man nicht so oft und bis jetzt habe ich nur einen Elefanten gesehen, dafür gibt es jede Menge Hunde. Ich lese und höre hier noch vieles über Indien. Bis jetzt hat sich vieles für mich noch nicht bestätigt.
Kundapur (Coondapoor) scheint auf jeden Fall eher eine Musterstadt zu sein, mit wenig Analphabeten (vielleicht 10%), wenig Bettlern und funktionierender Müllversorgung.
Dies heißt nicht, dass es hier keinen Müll gibt. Müll wird hier auch manchmal auf der Straße verbrannt.
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Gerade sitze ich im Lungi (einem Tuch, das gewickelt getragen wird) auf unserem kleinen Balkon, genieße die Aussicht auf den Nachbarsgarten, beobachte etwas Marderähnliches und höre ein paar Vögel. Weil meine Schule Ferien hat war ich die letzte Woche in einem Workcamp. Dort haben wir einen Infostand aus Palmblättern gebaut, 2 Wände bemalt, ein Theaterstück aufgeführt, gebadet und Infoflyer über Schildkröten an Fischer verteilt.
Morgen werde ich für 8 Tage auf Reisen gehen, mir unter anderem ein großes Festival in Mysor ansehen und danach beginnt die Schule wieder.
Im November habe ich das erste Zwischenseminar. Dort treffe ich die Freiwilligen aus unserer Orientierungswoche wieder. Ich habe auch hier in Kundapur viele Freiwillige, hauptsächlich aus Deutschland, um mich herum. Manche bleiben ein Jahr, andere nur ein paar Monate und momentan gibt es sogar ein Workcamp, in dem Jugendliche aus verschiedenen Ländern für 2 Wochen "arbeiten".

Ich bin froh, länger bleiben zu können, weil es so viel zu erleben, lernen und bereisen gibt und in meinem Projekt Veränderungen nicht von heute auf morgen erreicht werden.
Es brauchte Zeit, bis ich mich auf die Kinder und den Tagesablauf eingestimmt hatte. Viele Kinder sind nicht ärztlich diagnostiziert und/oder nicht unter ärztlicher Behandlung. Deshalb ist oft nicht klar, wie mensch mit ihnen umgehen sollte. 2 der 3 Mitarbeiter sind nicht für die Arbeit mit Behinderungen ausgebildet und die angewandten Methoden können manchmal etwas unpassend wirken. Im Großen und Ganzen sind der Tagesablauf und der Umgang mit den Kindern aber verglichen mit anderen Schulen in der Umgebung sehr positiv. Auch die Früchte der Freiwilligenarbeit der letzten Jahre sind zu sehen. Die Kinder selbst sind echt lieb, lebhaft, sie helfen dem Personal und sich gegenseitig, versuchen mit mir zu reden, was meist an meinen Sprachkenntnissen scheitert, spielen, träumen und tanzen gerne und lachen kann man auch gut mit ihnen. Ich male, gehe, spiele, tanze, musiziere, „arbeite“ und mache Yoga und Physiotherapie mit ihnen, oft einzeln. Ich helfe den Lehrern beim Tagesablauf, kümmere mich um das Zähneputzen und versuche auch selbst ein bisschen die Sprache mitzulernen. ... Verbesserungen zu sehen ist eher schwierig, aber den Tagesablauf zu erweitern und ein paar glückliche Gesichter zu zaubern ist auf jeden Fall möglich. Täglich den Zustand der Kinder zu sehen ist nicht immer einfach. Trotzdem bin ich froh hier und in diesem Projekt zu sein.

Natürlich vermisse ich auch einiges aus Deutschland, vor allem Personen, die mir wichtig sind. Zum Glück verliere ich diese nicht. Was ich hier erlebe, ist mehr als nur ein Ersatz, es ist eine richtige Bereicherung!