10 Jahre später - wie ich diesen Blog hier sehe und was mir noch wichtig ist

Hey,

die letzten Tage habe ich mir Zeit genommen meinen Blog einmal komplett zu lesen. Hier mal ein paar Gedanken dazu. Wow, das ist vielleicht eine besondere Sache, mich so vor 9 Jahren an einem damals so neuen Ort zu sehen. Wo es für mich selbstverständlich war morgens um 5 zum Yoga zu gehen und ich fast alles durch eine "mir geht's ganz gut" und "das und das sind mir oder anderen gut gelungen" Brille gesehen habe. Und damals habe ich mein Innenleben wohl auch genau so erlebt und verbalisiert.
Sonst fallen mir vor allem die Orientierung nach "was sinnvolles tun" und "etwas verändern wollen" auf - wobei ich das ja auch damals schon relativiert und kontextualisiert habe. Die durchgehend männliche und verallgemeinernde Sprache bemerke ich auch, verdenke mir das aber. Mein schon fast naiver Optimismus und meine Offenheit fallen mir auf und gefallen mir - wünsche ich zum Teil jungen Menschen auch so.

Spannend finde ich, dass kaum etwas aus meiner Zeit vor Indien auftaucht, z.B. mein gutes Abi, Schulwissen, Sport oder Freunde und dann sind mir aber durchwegs meine vertrauten Menschen in Deutschland wichtig. 

Die Relativierungen von den Bildern, die ich damals bei anderen oder mir selbst über Indien sah finde ich heute sehr erfrischend und natürlich nicht erschöpfend.

Die Selbstverständlichkeit mit der ich über "Indien" und die Inder berichte - selbst trotz Relativierungen - ist besorgniserregend, wenn ich mir überlege, dass Menschen mit mehr Einfluss vielleicht ähnliches tun. Das Gesprächsmuster kann ich heute noch z.B. bei meinem Opa beobachten, der sich dabei gerne auf Inhalte aus dem Fernsehen beruft. Und ich schäme mich etwas für die Selbstverständlichkeit mit der ich eher andere/indische Umstände als mich selbst kritisch sehe.

Manchmal gibt es im Unterton etwas möglicherweise arrogantes, selbstverständliches, wenig demütiges, dass mir auffällt wenn ich über meine Familie, die mich versorgt und all die Gastfreundschaft und Geschenk schreibe, welche ich bekommen habe. Es trifft mich (nicht unbedingt negativ), wenn ich sehe wie viel ich damals bekommen habe und wie (herzlich) ich aufgenommen oder begleitet wurde - aber mich deswegen schlecht zu fühlen wäre wohl noch unpassender (Schuld/Schamnarrativ). Vielleicht kann ich mir heute nur schwer vorstellen so viel zu bekommen, wo ich gerade jetzt meine Leben so sehr selbst verantworte und trage.

Auch wenn ich damals hin und wieder Begegnungen als stressig oder unfreundlich erlebt habe, so waren doch vor allem in der Stadt wo ich gewohnt habe und auch viele Unbekannte auf Reisen, enorm freundlich, herzlich und freudig im Kontakt mit mir. Ganz besonders ist mir noch die liebe und freudige, wenn auch manchmal klare bis strenge Umgangsweise meiner Gastfamilie mit mir präsent. Vielleicht ist die Beziehungs- und Gemeinschaftserfahrung, welche ich dort machen durfte, im Nachhinein gesehen, sogar das wertvollste (!) an meiner Indienerfahrung. Welch ein Geschenk eine durchwegs wohltuende Eltern- und "Meinen Platz haben"-Erfahrung am Ende meiner Jugend in einem so neuen Kontext machen zu dürfen. ... Sehr wertvoll waren auf jeden Fall auch mein "meinen Weg gehen", manch Kultur und Naturerfahrung und meine spirituelle Praxis dort.


Was mir sonst so aufgefallen ist:
- auf jeden Fall habe ich mir nicht entgehen lassen, viele ungewöhnliche oder dramatischen Dinge zu beschreiben oder zu benennen. Wobei diese auf jeden Fall auch das waren was mir an der Oberfläche dort begegnet ist - neben all den netten Menschen, Natur usw. Und dennoch gibt es eben das Tiefere wo der ungewöhnliche und dramatische Aspekt dann gar nicht so wichtig gewesen wäre. Aber darauf habe ich wohl damals weniger aktiv geachtet oder weniger Worte dafür gefunden.

- Zum "Beitrag meines Mitbewohners": Ich glaube mein deutscher Mitbewohner, hat bei seiner Unterstellung, die Familie mache da etwas wegen Geld - auch wenn das vllt. auch z.T. ein relevanter Faktor ist - vermutlich einfach den respektvollen und auch (geschlechter)rollen gemäßen Umgang - der dann temporär etwas distanziert ist - bei seiner Ankunft in der Familie nicht verstanden. Passt für mich zu dem weniger sich-selbst-reflektierenden und mehr erwartenden Modus der schlechter vorbereiteten Kurzzeitfreiwilligen - das könnte auch anders sein, habe ich aber meist so erlebt.

-"Goa ein Touristenstaat" - das ist für mich ein Beispiel eines Bildes, das Indien schon sehr mit Fokus auf seinen Bezug zu westlichen Menschen sieht.

- etwas verwundert bin ich darüber, dass ich nicht viel mehr über meine Spiritualität, spirituelle Praxis, Bücher die ich gelesen habe und mein "mich in eine Inderin verlieben", geschrieben habe.
Das waren für mich im Nachhinein enorm wichtige und prägende Erfahrungen, die mich noch am längsten mit begleitet haben.

- Die Beschreibung meiner Vipassana Erfahrung oder meiner Erfahrungen bei Isha Yoga sind schmerzlich kurz und nüchtern; ähnlich dem wie wenig ich über Freundschaften, Liebschaft und Beziehung zu mir selbst geschrieben habe. Was allerdings doch etwas mehr Raum bekommen hat und wo ich jetzt im Nachhinein nochmal mehr sehe wie wichtig es wohl für mich war ist meine Gastfamilie. Ihr und all den Menschen, die mich in meinen jungen Jahren herzlich, großzügig und manchmal auch klar und vernünftige begleitet haben möchte ich jetzt auch noch einmal Danke sagen. Meiner Gastfamilie schreibe ich jetzt noch einen Brief.

Alles Liebe

An Menschen, die Gutes tun wollen. Ich mag Euch das Buch: Gutes Besser Tun von Willam MacAskill empfehlen. Fazit: Jede*r der*die deutsch kann - kann mit ein paar sehr spezifischen Dingen (dazu die Fragen und Überlegungen aus dem Buch) verhältnismäßig viel Bewirken.
Dazu dann gerne noch ein Buch zu kritischem Weissein und eines zu sozialen Bewegungen.

An Menschen, die Überlegen einen Freiwilligendienst zu tun: So etwas wie meine Zeit in Indien kann ich vielen nur von Herzen wünschen. Für manche mag ich aber auch noch sagen. Es gibt gerade Herausforderungen auf der Welt, die sind an manchen Orten schon und werden in Zukunft überall enorm wichtig werden. Klimaveränderung, Konkurrenz und Konflikte sind ein paar davon. Vielleicht findest Du ja ein Projekt, dass sich dorthin orientiert.